Es hat demnach durchaus nichts Auffälliges, wenn wir finden, daß zuweilen minderwertige Organe für ein vollgezähltes Lebensalter ausreichen.
(Alfred Adler, 1870-1937)
Eine Betrachtung der Erkrankungen des Harnapparates kann in der weitläufigsten Weise angestellt werden, solange die Symptomatologie in Frage steht. Wie bei allen anderen Krankheiten ist auch in der Nierenpathologie die Lehre von den Symptomen auf reiner Empirie aufgebaut, ruht also auf sicherem Fundament und ist reich genug ausgestattet, um die Diagnostik der Nierenerkrankungen auf sichere Wege zu leiten. Der Rahmen verengt sich aber sofort, wenn sich die Betrachtung der Ätiologie zuwendet. Die Lehre von den Ursachen der Nierenerkrankungen liest sich wie eine kurzgefaßte Sammlung von Gemeinplätzen, in der Begriffe, wie Disposition, Erkältung, Gifte, Infektion, Kreislaufstörung immer wiederkehren und ihre Rolle spielen, wie bei anderen Organerkrankungen auch.
Daß mehrere dieser ursächlichen Momente selbst in hohem Grade einer Begriffsbestimmung bedürftig sind, soll nicht einmal besonders hervorgehoben werden. Schwerer fällt ins Gewicht, wie wenig feststehendes Material verfügbar ist, um die Frage nach der Krankheitslokalisation in der Niere zu erledigen. Am ehesten entspricht noch den Grundbegriffen der Pathologie die Hervorhebung von Miterkrankungen der Niere bei Vergiftung und Infektion sowie von konsekutiven Veränderungen bei Erkrankungen des Kreislaufapparates, von denen die Harnorgane wie andere Organe auch gemäß ihrer Relation zu den Krankheitsherden befallen werden.
Weniger klar liegen die Verhältnisse in bezug auf jene Fälle, die man als „genuine" oder „primäre" Erkrankungen der Niere zu bezeichnen gezwungen ist. Eine große Reihe von Krankheiten fällt unter diesen Namen. Sie alle haben das Gemeinsame, daß die letzte Ursache ihrer pathologischen Gestaltung nicht über das Nierenorgan hinaus verfolgt werden kann und daß eine entferntere oder gar exogene Ätiologie — schon dem Namen nach — ausgeschlossen erscheint. Hierher sind zu rechnen, wenn man alle anderen unterscheidenden Merkmale beiseite läßt: genuine Schrumpfniere, Nierengeschwülste, lokalisierte Lues und Tuberkulose, zystische Degeneration, Nephrolithiasis, Nephralgie hématurique, renale Hämaturie, Wanderniere, Aplasie und Hypoplasie und analoge Erkrankungen im Nierenbecken und Ureter. Wäre noch hinzuzufügen, daß auch der genetische Entwicklungsgang bei den Sekundärerkrankungen durchaus nicht mit dem Hinweis auf die causa movens als erschöpft anzusehen ist, daß vielmehr auch in diesen Fällen die Auswahl der Niere auf vorläufig unerklärten Wegen sich vollzieht.
Sieht man von einem Erklärungsversuch ab, der sich nur auf rein lokale, in der Niere gelegene Krankheitsursachen beschränkt, so kann man die Auffassungen über Krankheitslokalisation in den Nieren übersichtlich in drei Gruppen zusammenfassen, von denen sich jede sowohl auf sekundäre als auf primäre Erkrankungen bezieht. Die eine Hypothese sucht unter Hinweis auf die „nephrotoxische" Wirkung mancher Gifte die Wahl der Niere zum Krankheitsherd erklärlich zu machen. Ihre Stärke ist das Experiment sowie eine Anzahl von Erfahrungstatsachen, die den Gedanken an eine speziell die Nieren schädigende Noxe, wie bei Scarlatina, Diphtherie und anderen Infektionen nahelegen. Dagegen ist sie auf eine größere Reihe von Nierenaffektionen nicht anwendbar, läßt eine Erklärung für das Freibleiben der Niere bei Auftreten von „Nierengiften" nicht zu und sollte nur mit Vorsicht vom Tierexperiment aus verallgemeinert werden. Jedenfalls ist uns ein Gift, das regelmäßig die Nieren und zugleich nur die Nieren schädigt, vorläufig nicht bekannt. Eine zweite Auffassung erblickt in der exponierten Stellung der Niere als Exkretionsorgan, das ununterbrochen von Abfallsstoffen des Körpers durchflossen wird, die Ursache der meisten Nierenerkrankungen. Diese Hypothese soll als zureichende Erklärung für die meisten der Nierenaffektionen genügen. Sicherlich ist ihre Anwendbarkeit eine größere und ihre Tragweite steht außer Frage, da sie nicht nur mit echten Toxinen, sondern auch mit der Vermehrung von Abfallsprodukten und mit gesteigerten äußeren Anforderungen an die Nieren rechnet. Wir sind aber auch mit dieser Auffassung nicht in der Lage, befriedigende Aufschlüsse zu geben. Auch sie läßt uns im Stiche, wenn wir die Frage aufwerfen, warum bei Vorhandensein der Prämissen, bei Anwesenheit von Bakterien im Blute, von Toxinen und Giften, bei chronischen Stoffwechselanomalien, bei Alkoholismus, Schwangerschaft, Erkältung die Nieren so häufig gesund gefunden werden. Sie versagt auch beim Erklärungsversuch einseitiger Erkrankung der Nieren, wie im Falle von Tuberkulose, Lues und Geschwülsten. — Diese und andere Unzulänglichkeiten zwingen zu einer dritten Anschauung, die auch in dieser Arbeit, wie ich glaube, mit guten Gründen verfochten werden soll, einer Auffassung, nach welcher den meisten Nierenerkrankungen eine ursprüngliche Minderwertigkeit des harnabsondernden Apparates zugrunde liegt.
Daß ein derartiger Zustand für viele Fälle anzunehmen ist und in der Nierenpathologie seine Rolle spielt, ist wohl allgemein anerkannt. Die Erscheinung genuiner Nierenerkrankungen kann durch die Annahme hypothetischer Stoffwechselgifte nicht zureichend erklärt werden. Vor allem ist es der pathologische Befund sowie der klinische Verlauf, die beide dem Bilde einer chronischen Vergiftung widersprechen. Fast mit der gleichen Schärfe wird diese Annahme durch die oft lange Dauer und durch das häufig hereditäre Auftreten widerlegt. Ebenso sind die Pubertätsalbuminurie, die renale Hämophilie, die Zystenniere, die Schwangerschaftsniere, die orthostatische Albuminurie und die mit chronischer Obstipation verbundene Albuminurie Hinweise, denen man sich kaum entziehen kann. Eine der mächtigsten Stützen aber für die den Nierenerkrankungen zugrunde liegende Minderwertigkeit des harnabsondernden Apparates ist die in der Nierenpathologie so häufig zu beobachtende Heredität. Höchstens kommt noch in Frage, ob einzelne dieser Albuminurien als Krankheiten zu nehmen sind. Die Schwierigkeiten in der Entscheidung dieser Frage sollen nicht geleugnet werden. Denn der Übergang von leichten Anomalien der Harnbeschaffenheit zu schweren Erkrankungsformen der Nieren ist noch nicht häufig genug beobachtet worden. Aber selbst langjähriger Stillstand der Erscheinungen oder Besserung, sei sie unter ärztlicher Behandlung oder ohne eine solche erfolgt, hat keinerlei Beweiskraft. Es kann nämlich mit Recht hervorgehoben werden, daß die Annahme einer Minderwertigkeit der Niere als Grundlage der Nierenerkrankungen, vom Standpunkte der Pathologie aus betrachtet, sehr viel Wahrscheinlichkeit für sich hat, daß der Übergang von Bildungs- oder Funktionsanomalie in Krankheit in der kürzesten Frist bewerkstelligt sein kann und es in vielen Fällen fraglich wird, wo für uns das Krankheitsbild beginnt. Die „physiologischen" Albuminurien spielen da die gleiche Rolle wie etwa die Zystenniere, die sich förmlich über Nacht als schwerer Krankheitsfall darstellen kann, nachdem sie längere Zeit symptomlos bestanden hat.
Durch eine derartige Betrachtung vom Standpunkte einer Minderwertigkeitslehre aus gelangen die oben gekennzeichneten Affektionen des Harnapparates erst an den ihnen gebührenden Platz in der Pathologie. Ihre Bedeutung im Rahmen der Nierenpathologie tritt durch den Nachweis einer ursprünglichen Minderwertigkeit klarer zutage. Gleichzeitig erweist es sich als notwendig, die Untersuchung auf konstitutionelle Organanomalien als der Grundlage vieler, vielleicht der meisten Erkrankungen eindringlicher zu führen, so daß unter Umständen aus der Minderwertigkeitslehre die Diagnostik eine starke Unterstützung beziehen kann. Der Wert dieser Anschauungsweise erstreckt sich aber auch auf die Lehre von den Symptomen und auf die experimentelle Pathologie. Auf letztere, indem sie ein- für allemal den Unterschied von minderwertigen und vollwertigen Organen festsetzt und so die schrankenlose Übertragung von Ergebnissen des Tierexperimentes auf den Menschen, von Erfahrungen am Gesunden auf den Kranken hindert. Auf erstere, indem sie eine innigere Verknüpfung vom empirisch gefundenen Symptom zum erkrankten Organ herzustellen sucht und für Symptome einer mehrfachen Organerkrankung die zugehörigen Organe verantwortlich macht. — Eine besondere Betonung wird die persönliche Prophylaxe erfahren in allen jenen Fällen, wo es gelingt, eine Organminderwertigkeit zu erschließen, ohne daß bereits Anzeichen einer Erkrankung nachzuweisen wären. Ähnlich wie schon heute, wenn Erkrankungen der Eltern den Verdacht bezüglich der Nachkommen erwecken. — Für die Therapie wird grundsätzlich festzustellen sein, ob das minderwertige Organ noch durch irgend ein Regime zu genügender Funktion, eventuell sogar zu einem Bildungszuschuß angeregt werden soll und kann, eine Frage, die bei jugendlichen Personen häufig zu bejahen, bei älteren Kranken nicht selten zu verneinen sein wird. Die Beantwortung dieser Frage wird aber zumeist einen tieferen Einblick in das Wesen der vorliegenden Minderwertigkeit und in seine Bedeutung für den betreffenden Patienten erheischen. Sieht man sich veranlaßt, eine aktive Kur, das Training, zu verwerfen, so treten die Gesetze eines schonenden Heilplanes, Ruhe, Entlastung, in ihre Rechte. — Für die Stellung der Prognose endlich, quoad vitam oder sanationem, ist durch die Minderwertigkeitslehre gleichfalls eine wertvolle Hilfe gewährleistet. Von dem nunmehr geforderten Standpunkt aus wird nicht bloß die Summe der sich bietenden Erscheinungen, sozusagen die Phase des Kampfes, in Erwägung zu ziehen sein, sondern auch die Wertung des Organes festzustellen und das Verhältnis dieses Wertes zur krankheitserregenden Kraft ins Auge zu fassen sein.
Diese Auseinandersetzungen dürften dartun, daß die Lehre von der Minderwertigkeit der Organe Probleme in Angriff nimmt, die zu den wichtigsten der Pathologie gehören. Daß sie für sich den Anspruch erheben darf, kraft der ihr zugrunde liegenden Bedingungen als wertvolle heuristische Methode angesehen zu werden, soll im folgenden nachzuweisen versucht werden.
Nachdem wir im obigen versucht haben, die große Bedeutung der Minderwertigkeitslehre in der Nierenpathologie zu skizzieren, zu der wir im Nachtrag noch einige spezielle Belege bringen werden, sehen wir uns veranlaßt, das Gebiet unserer Untersuchung zu erweitern und den gesamten Kreis der Organe in Betracht zu ziehen. Es muß dies um so eher gestattet sein, als einerseits jene Argumentation, die uns zur Behauptung einer Minderwertigkeit des harnabsondernden Apparates als einer der Grundlagen der Nierenpathologie Veranlassung gegeben hat, auf alle anderen Organerkrankungen Anwendung finden kann, andrerseits die pathologischen Erscheinungen der kranken Niere sich in ähnlicher Weise in der gesamten Pathologie nachweisen lassen. Die chronischen Veränderungen des Parenchyms, die pathologische Gestaltung des Stützgewebes, zystische Entartung, Konkrementbildung, Lokalisation von entzündlichen und neoplastischen Geschwülsten, Mißbildung, Aplasie, Hypoplasie im ganzen Apparat oder einzelnen seiner Teile kehren bei allen oder einigen der Organerkrankungen wieder und immer erscheint die Lehre von der Minderwertigkeit berufen, die sonst unzureichende Ätiologie zu ergänzen. Wir finden analoge Veränderungen in der Leber, im Pankreas, in der Thyreoidea, am Genitaltrakt, an Teilen des Verdauungstraktes, des Atmungs- und Kreislaufapparates und im Zentralnervensystem. Eine große Reihe dieser Erkrankungen zeichnet sich durch die bei den Nierenkrankheiten hervorgehobenen Charaktere, durch Heredität, chronischen Verlauf, typische Lokalisation innerhalb des Organes oder unzureichende, weder durch Gifte noch durch Bakterien gestützte Ätiologie aus, fügt sich aber zwanglos in den Rahmen der Minderwertigkeitslehre. So die Pathologie der Schilddrüse, deren Ätiologie sich als vollkommen unzureichend erweist, die aber allen bisher genannten Bedingungen der Minderwertigkeitslehre, insbesondere der der Heredität entspricht. Die pathologischen Veränderungen der Leber zeigen makroskopisch wie mikroskopisch fast in jedem Falle der Nierenpathologie analoge Erscheinungen, wobei uns in erster Linie natürlich die primären Erkrankungen interessieren. Es erscheint uns weiter überflüssig, darauf einzeln hinzuweisen, handelt es sich doch um ein in der allgemeinen Pathologie genügend klar hingestelltes Problem, wie sich bestimmte Veränderungen in jedem einzelnen Organ wiederfinden lassen. Nur der Mangel einer zureichenden Ätiologie soll in diesem Zusammenhange hervorgehoben werden. Das Problem dagegen, das in dieser Schrift aufgeworfen und zu lösen versucht wird, hat vielmehr die Frage zum Inhalt, welche Gründe sind dafür maßgebend, daß gewisse Erkrankungen gerade ein bestimmtes Organ befallen? Die von uns angenommene Lösung, die eine primäre Minderwertigkeit dieses Organes als Grundlage der Erkrankung ansieht, steht mit den Meinungen und Forschungen vieler Autoren in Einklang. Vielleicht dürfen wir in dieser Frage bloß in Anspruch nehmen, die Lehre von der Minderwertigkeit der Organe umfassender in Angriff genommen und ihre Bedeutung für wesentlicher angesehen zu haben. Größerer Widerspruch dürfte sich aber gegen die weitere Behauptung erheben, daß auch andere, nicht als genuin angesehene Erkrankungen, wie Infektionskrankheiten und „zufällige“ Erkrankungen des Entgegenkommens einer Organminderwertigkeit oft bedürfen oder wenigstens in ihrem Verlaufe davon abhängig sind. Eine noch größere Anzahl von Krankheiten wären hier zu nennen. So die Tuberkulose, die sich wohl stets im minderwertigen Organ lokalisiert, eine Behauptung, durch deren endgültigen Nachweis viele der schwebenden Fragen, die Heredität, Eintrittspforten und Wege der Infektion, Immunität und Therapie betreffend, einer Lösung näher gebracht wären. Desgleichen fallen die Ansiedlung der Löfflerschen Bazillen und anderer Mikroorganismen am Rachenring, der Fränkl-Weichselbaumschen Diplokokken in der Lunge, der Typhus-, Cholera- und Dysenterieerreger an bestimmten Stellen des Darms und manche anderen Infektionen in diese Betrachtung. Dabei soll die Rolle der Bakterieninvasion nicht geleugnet werden. Aber besonders seit der Nachweis vieler pathogener Mikroorganismen bei Gesunden gelingt, erscheint die Annahme einer Minderwertigkeit der erkrankten Organe gesichert. Freilich wird man in diesen Fällen oft nur undeutliche Zeichen der Minderwertigkeit zu erwarten haben, ja für viele dieser Erkrankungen muß die Affektion selbst und ihr Verlauf vorläufig als Beweis der Minderwertigkeit angesehen werden. Dies führt uns dazu, für diese weitverbreiteten Erkrankungen die Auffassung von einer „absoluten“ Minderwertigkeit fallen zu lassen und den Begriff einer „relativen“ Minderwertigkeit einzuführen, die sich, sei es zeitweilig oder nur gewissen Krankheitsursachen gegenüber geltend macht. Bezüglich der Tuberkulose freilich scheinen die Beweise einer primären Minderwertigkeit der Lunge oder anderer befallener Organe reichlicher vorhanden zu sein. Schon das hereditäre Auftreten erleichtert diese Annahme. Desgleichen die oft typische Lokalisation in Lunge, Niere, Gelenken und Gehirn. Tatsächlich liegen Hinweise vor auf Befunde, die gewisse Wachstumshemmungen anschuldigen, wie von Fränkl, Schick und Sorgo, Befunde, die wir ohne weiteres mit den von uns später hervorgehobenen Degenerationszeichen in eine Reihe stellen können.
Bezüglich des Diabetes, der Epilepsie, der Neugebilde, des chronischen Alkoholismus, der Fettsucht, des Kretinismus und einigen anderen Erkrankungen behalte ich mir vor, nach Durchsicht eines größeren Materiales deren Stellung zur Lehre von der Organminderwertigkeit zu präzisieren. Eine kleine Beobachtungsreihe hat mir nahegelegt, auch diese Affektionen als auf der Grundlage der Organminderwertigkeit aufgebaut zu betrachten.
Die Rolle des Zufalls bei Erkrankungen minderwertiger Organe ist sicherlich nicht so groß, als gemeiniglich angenommen wird. Wenigstens begegnet man Fällen, die so sonderbar anmuten, daß eine größere Reihe von ihnen imstande ist, einem die Ansicht aufzuzwingen, ihre Determination sei anders und strikter gegeben als durch den Zufall. Einen dieser Fälle will ich im folgenden vorlegen. Ladislaus F., 8 Jahre alt, erlitt im August des Jahres 1905 eine Verletzung durch eine Schreibfeder im äußeren oberen Quadranten des linken Augapfels, die durch die Conjunctiva bulbi bis in die Sklera reichte. Patient war einem mit der Feder herumfuchtelnden Kollegen zu nahe gekommen, ohne daß einem der beiden Knaben ein Verschulden aus Böswilligkeit oder besonderer Unachtsamkeit nachgewiesen werden konnte. Die Wunde heilte unter geringer Reaktion. Im Oktober des Jahres 1905 stellte sich der Knabe wieder vor mit einem in der Kornea des linken Auges eingekeilten Kohlensplitter, der ihm bei einem Windstoß ins Auge geflogen war. Nach Extraktion des Fremdkörpers trat in kurzer Zeit Heilung ein. Im Januar des Jahres 1906 erlitt Patient abermals einen Stich ins linke Auge, der ihm ebenso wie beim ersten Male von einem Schulkollegen mit einer gebrauchten Schreibfeder zugefügt wurde, etwa 1 cm unterhalb und einwärts von der ersten Stichverletzung. Auch diese Verletzung heilte wie die erste in kurzer Zeit mit Hinterlassung einer tintig tingierten Narbe. Man könnte meinen, das sei ein böser Zufall. Ich konnte folgendes ermitteln: Der Großvater mütterlicherseits litt an einer diabetischen Iritis und stand lange Zeit in augenärztlicher Behandlung. Die Mutter zeigte einen Strabismus convergens, desgleichen der jüngere Bruder des Patienten, der beiderseits an Hypermetropie und herabgesetzter Sehschärfe litt, nicht genau nachweisbar wegen Unaufmerksamkeit und geringer Intelligenz des Knaben. Ein Bruder der Mutter war von häufigen Rezidiven einer Conjunctivitis ekzematosa geplagt und zeigte Strabismus convergens. Unser Patient besaß volle Sehschärfe, einen geringen Grad von Hypermetropie, zeigte aber Mangel des Konjunktivalreflexes auf beiden Augen.
Ich will nicht allzu viel aus diesem Falle folgern. Immerhin scheint mir festzustehen, daß man bei diesem Knaben eine Minderwertigkeit des Sehorgans annehmen muß, ziemlich sicher nachweisbar durch die Heredität, die verschiedenen Erkrankungsformen seiner Angehörigen, teils entzündlicher, teils funktioneller Natur, dem Ausfall der eigenen Reflexfunktion der Konjunktiva und der mangelhaften Behütung des Auges durch seinen Träger, ein Umstand, der mir mit der mangelnden Reflexaktion in einem gewissen, übrigens nicht ganz geklärten Zusammenhang zu stehen scheint. An diesem Punkt muß ich noch hinzufügen, daß bei genügenden psychischen Vorbedingungen die oben geschilderte Minderwertigkeit des Auges wettgemacht werden kann, und zwar durch Mehrleistungen der Psyche. Der Knabe kann „durch Schaden klug“ werden und durch psychische Mehrleistung den teilweisen organischen Defekt decken. Der Übergang aus der Organminderwertigkeit in psychische Mehrleistung wird in solchen Fällen greifbar. Es kann aber auch keiner Frage unterliegen, daß in der Art der psychischen Kompensation die Spuren der auslösenden Organminderwertigkeit unverwischbar bleiben, daß beispielsweise im vorliegenden Falle der Schutz des Auges mehr in den Blickpunkt der Aufmerksamkeit rücken und damit der visuelle Charakter des Individuums eine besondere Verstärkung erfahren müßte. Doch davon später.
Unterdes sei es uns gestattet, über das Wesen der Organminderwertigkeit, das schon im vorliegenden stellenweise beleuchtet erscheint, im Zusammenhange folgendes nachzutragen: Wir müssen bloß zum Zwecke einer einfacheren Übersichtlichkeit zwei Formen namhaft machen, in denen sich die Minderwertigkeit eines Organes ausdrückt, die morphologische und die funktionelle Minderwertigkeit. Beide sind in der überwiegenden Anzahl der Fälle gleichzeitig vorhanden. Als dritte Form, auf welche ich in dieser Studie weniger Gewicht lege, möchte ich die „relative“ Minderwertigkeit bezeichnen, die sich bloß durch den Krankheitsfall deklariert und erst bei gesteigerten Ansprüchen oder planmäßigen Probeversuchen kenntlich wird.
1. Morphologische Minderwertigkeit
Man wird sie nachweisen können als mangelhafte Ausbildung der Form eines Organes, seiner Größe, einzelner Gewebsteile, einzelner Zellkomplexe, des gesamten Apparates oder beschränkter Teile desselben. Eine gewisse Wahrscheinlichkeit, die nur den Forderungen der Biologie Rechnung trägt, spricht dafür, daß ursprünglich gerade die höchst entwickelten, differenziertesten Zellen und Zellkomplexe dabei am schlechtesten geraten sind, während die Gewebe geringer Qualifikation, die etwa einer frühzeitigen embryologischen Epoche ihre Ausbildung verdanken, normal oder sogar übernormal entwickelt sein können. Das Defizit wird vor allem jene Gewebsteile betreffen, die als sekretorische, nervöse Elemente, Schutzgewebe, Ausführungsgänge oder Zufuhrkanäle die volle Ausbildung der Funktion garantieren. Setzt nun die Lebenstätigkeit ein und mit ihr die unzähligen Reizquellen des Kraft- und Stoffwechsels, so können die zurückgebliebenen Gewebe fötal oder postembryonal eine mächtige Förderung und einen ausreichenden Wachstumsschub erfahren. Ihre endgültige Ausgestaltung wird freilich nicht die einer normalen fötalen Entwicklung sein, kann aber soweit reichen, daß die lebensnotwendige Funktion sichergestellt erscheint. Für das Leben und die Gesundheit des Individuums kommt nur in Betracht, daß eines seiner Organe mit einem geringeren oder widerstandsunfähigeren Bestand von Gewebsteilen die für den Haushalt notwendige Binnenarbeit zu leisten hat. Bei genügendem Aufbaumaterial und hinreichender Zufuhr wird es häufig gelingen, der Arbeit Herr zu werden. Vielleicht ebenso häufig aber kommt die Stunde, wo sich die Insuffizienz des Organes erweist, wo die äußeren und inneren Hindernisse nicht mehr restlos bewältigt werden können. Der normale Auf- und Abbau des Organes macht regressiven Erscheinungen Platz, die in ihrem Wesen von der morphologischen Minderwertigkeit des Organes ebenso bedingt sind, wie von den speziellen, die Krankheit auslösenden Ursachen. Der Zeitpunkt, wann die zum Leben nötige Funktion erlischt, ist durch Relationen gegeben. Es hat demnach durchaus nichts Auffälliges, wenn wir finden, daß zuweilen minderwertige Organe für ein vollgezähltes Lebensalter ausreichen.
Aus den Bedingungen der morphologischen Minderwertigkeit eines Organes, der regelmäßig ein fötaler Bildungsmangel zugrunde liegt, lassen sich mit Sicherheit folgende Schlüsse ableiten:
1. Da der fötale Bildungsmangel durch ererbte oder erworbene Eigenschaften des Spermatozoon oder Ovulum herbeigeführt wird, muß sich der hereditäre Charakter der Organminderwertigkeit in besonderer Weise ausprägen. Die Heredität muß sich nicht stets in morphologischen Minderwertigkeiten eines und desselben Organes erschöpfen, sie kann, wie später ausgeführt wird, durch funktionellen Ausfall, durch Minderwertigkeit eines zweiten Organes oder, wie vorhin erwähnt wurde, durch Krankheitsfall („relative“ Minderwertigkeit) in der Verwandtenreihe nachgewiesen werden.
2. Die meisten der Organe sind dem unmittelbaren Erkennen entzogen, so daß wir häufig darauf angewiesen sind, etwaige Minderwertigkeiten aus Anomalien der Größe, der Form, der Lage zu erschließen. Ein ungemein wichtiger Behelf bietet sich uns in den Anomalien der Funktion, die im Zusammenhang mit anderen Charakteren der Organminderwertigkeit als gleichberechtigtes Minderwertigkeitszeichen anzusehen sind. Direkt wahrnehmbar sind dem Auge und Tastsinn die dem äußeren Integument naheliegenden und mit ihm oft in Verbindung stehenden morphologischen Organminderwertigkeiten, die uns bis heute unter dem Namen der äußeren Degenerationszeichen oder Stigmen geläufig waren. Sie stellen zum größten Teil nichts anderes dar, als den sichtbaren Ausdruck der Minderwertigkeit des zugehörigen Organes, wobei es allerdings im einzelnen Fall stets des Nachweises bedarf, wie weit sich die Minderwertigkeit auf den tieferen Teil des Organes erstreckt.
3. Aus dem fötalen Charakter der morphologischen Organminderwertigkeit, aus dem embryonalen Materialmangel, den wir ihm zugrunde legen müssen, folgt, daß sich häufig mehrfache Organminderwertigkeiten einstellen müssen, die sich entweder durch räumliche Mißstände oder durch ein auf mehrere Organe ausgedehntes Stoffdefizit erklären. Die Relation bestimmter Organe zueinander muß dabei eine Rolle spielen, die gleichfalls schon im embryonalen Stadium ihren Anfang nimmt. Auch in diesen Fällen, welche die Erfahrung reichlich bestätigt, kann eine morphologische Anomalie durch einen funktionellen Defekt ersetzt sein.
2. Funktionelle Minderwertigkeit
Vielleicht ist dies die übergeordnete Gruppe, aus der sich dem Auge sichtbar die vorangestellte heraushebt. Ihre Eigenart besteht, summarisch gekennzeichnet, in einer der Norm, den äußeren Anforderungen nicht genügenden Arbeitsleistung oder Arbeitsweise. Der Ausgleich, der in vielen Fällen oft für lange Zeit statthat, besteht in der vikariierenden Vertretung durch ein symmetrisch gelegenes Organ, in der kompensatorischen Hilfeleistung eines zugehörigen Organteiles, in der Inanspruchnahme eines anderen Organes oder in der übernormalen Ausnutzung des minderwertigen Organes. Der vorläufige Ausgang hängt von den vorhandenen Reservekräften ab. Die Pathologie dieser Zustände erschöpft sich in allen denkbaren Anomalien der Leistung, der Sekretion und des Wachstums. Die Tätigkeit des mehr beanspruchten Organes oder Organteiles vollzieht sich unter erhöhten äußeren und inneren Anforderungen, so daß an einem bestimmten Punkte des Organismus einem gesteigerten Reizzustande Genüge geleistet werden muß, um ein auch nur labiles Gleichgewicht zu gewährleisten. Erschütterungen irgendwelcher Art, Infektionen, Erschöpfungszustände, Überarbeit körperlicher und psychischer Natur, Störungen im Wärmehaushalt werden zumeist an dieser gefährdeten Stelle ihre Wirkung äußern. Es ist aber auch leicht einzusehen, daß selbst die gewöhnlichen Anforderungen des Lebens, der Kultur, gleichfalls an diesem kritischen Punkte, dem „locus minoris resistentiae" häufig mit Schädigungen einsetzen können.
Die Beobachtungen über das Vikariieren symmetrischer Organe sind alt und beziehen sich sowohl auf angeborene wie im Leben erworbene Unterschiede der Gestalt und Funktion. Hier wären anzuführen: Eintreten der beiden Gehirnhälften füreinander, ebenso der Schilddrüsenhälften, der Lungen, der Nieren, der Ovarien, der Hoden. Scheiden wir die sicher erworbene Minderwertigkeit in diesen Fällen aus, die sich nur selten finden dürfte, so sehen wir uns gezwungen, auch bei Feststellung der Erscheinungen des Vikariierens vorkommendenfalls die Diagnose einer Organminderwertigkeit aussprechen zu müssen. Dieser Umstand, ferner die später zu erwähnende, häufig nachweisbare gesteigerte Wachstumstendenz minderwertiger Organe, der nicht seltene Befund gleicher und gleichmäßig verteilter Anomalien beiderseits, wie sie einseitig beim Vikariieren anzutreffen sind, analoge Befunde bei asymmetrischen Organen auf Grundlage einer primären Minderwertigkeit legen die Annahme nahe, daß gerade primär minderwertige Organe unter gewissen Bedingungen prädestiniert erscheinen, für kürzere oder längere Zeit eine gesteigerte Funktionsleistung auf sich zu nehmen. Außer den bekannten Typen, Emphysem bei funktioneller Minderwertigkeit der anderen Lunge, Struma parenchymatosa lateralis bei Atrophie der anderen Seite, Nierenhypertrophie bei atrophischen Prozessen der zweiten Niere etc., möchte ich hier noch nennen Linkshändigkeit (partieller situs viscerum inversus) und das Vikariieren der Hälften des Zentralnervensystems. Ist bei allen diesen Erscheinungen auch an der Minderwertigkeit nicht zu zweifeln, so stellen sie sicherlich nur geringere Grade vor. Es kann kein Zweifel bestehen, daß das primär minderwertige Organ, das überaus häufig in seiner Größenentwicklung Mangel leidet und funktionell nicht auf der Höhe des normal entwickelten Organes steht, wenn es nicht zum Vikariieren gezwungen ist, eine geringere Arbeitsleistung zu bewältigen hat. Wahrscheinlich ist dies der Grund, warum es zuweilen gesund befunden wird, während das vikariierende Organ erkrankt. Dieses Verhältnis findet sich in folgendem Falle:
Fräulein Fanny H., 23 Jahre alt, stammt aus einer tuberkulös belasteten Familie. Die Mutter starb in jungen Jahren an Lungenschwindsucht, eine Schwester leidet gleichfalls an einer Lungenaffektion. Patientin hat außer Kinderkrankheiten keinerlei nennenswerte Affektionen durchgemacht. Seit längerer Zeit besteht starke Neigung zu Obstipation; Blässe der Haut und der Schleimhäute; Gaumenreflex und Rachenreflex fehlen. Im Frühling des Jahres 1905 erkrankte Patientin an Hämoptoe. Längerer Aufenthalt im Süden brachte geringe Besserung. Im Mai des Jahres 1906 ließ sich in der Gegend der rechten Lungenspitze Schallverkürzung und kleinblasiges Rasseln im Exspirium vernehmen. Die Distanz vom Dornfortsatz des 7. Halswirbels bis zum Processus coracoideus betrug rechts 18 cm, links 16 cm. Patientin gab an, daß seit ihrer Kindheit die rechte Thoraxhälfte auffallend stärker entwickelt war als die linke. Auch die Atemexkursionen der rechten Seite übertrafen die der linken. Wir finden in diesem Falle den Erkrankungsherd an einer Stelle, wo die ursprüngliche Minderwertigkeit des Respirationsapparates, die sich deutlich genug in der Heredität ausprägt, funktionell und morphologisch wettgemacht ist. Es erscheint aber in diesen und ähnlichen Fällen die Annahme gerechtfertigt, daß die Steigerung der Funktion und des Wachstums in einem minderwertigen Organ gleichfalls zu erhöhter Krankheitsdisposition Anlaß geben kann, wenn dabei bestimmte Relationen gestört werden. Sorgo und Schiek haben vor kurzer Zeit gezeigt, daß man bei Tuberkulösen öfters auf der Seite des Herdes eine kleinere Mamma oder einen kleineren Warzenhof findet, zuweilen aber auch auf der entgegengesetzten Seite. Den Zusammenhang und die Erklärung glauben wir im Obigen nachgewiesen zu haben.
Sicherlich gibt es zahlreiche reine Fälle von Minderwertigkeit, bei denen es nicht zum Vikariieren kommt, ebenso wie ein asymmetrisches Organ ohne Kompensation bleiben kann. Dem Eindruck nach dürften auch bei den asymmetrischen Organen, die sich als minderwertig nachweisen lassen, partielle Kompensationserscheinungen in der Mehrzahl der Fälle aufzufinden sein, und zwar deshalb, weil durchgängige Minderwertigkeit eines Organes oder Apparates einen gewissen Grad von Lebensunfähigkeit darstellt, der zu frühzeitigem Tode Veranlassung genug gibt. In Familien mit hoher Kindersterblichkeit dürften sich Anhaltspunkte für diese Auffassung finden lassen. Die sozialen Verhältnisse brauchen dabei durchaus nicht in ihrem furchtbaren Gewicht angezweifelt zu werden, aber ihre Wucht konzentriert sich wie die aller anderen Angriffe auf die minderwertigen Organe. Am geläufigsten sind uns diese Kompensationserscheinungen am Zirkulationsapparat und am Magendarmtrakt, wo sie nach der herrschenden Lehre vor allem zum temporären Ausgleich mechanischer Mißverhältnisse und durch sie bedingt auftreten. Ihre Hinfälligkeit allein macht sie indes verdächtig. Man sollte doch annehmen, daß ein naturgemäßeres Training kaum möglich sei als das eines Organabschnittes zur Bewältigung einer meist langsam entstehenden Stenose. Und doch finden wir in vielen Fällen ein so völliges Versagen der Kompensation in mehr weniger kurzer Zeit. Die Annahme einer Minderwertigkeit auch im kompensierenden Abschnitt, dessen Wachstumsenergie nur rascher aufgebraucht wird, klärt diese Hinfälligkeit um vieles. Dazu kommt noch, daß wir nach den bisherigen Darlegungen in der Etablierung und in der Entwicklung des Krankheitsherdes eine Minderwertigkeit des befallenen Organabschnittes zu erblicken gezwungen sind, von der wir die angrenzenden Teile nicht ohne weiteres völlig ausschließen können. Die gleiche Beweisführung möchten wir auf die Vorgänge bei Strikturen im Harnapparat und bei Lithiasis sowie auf die kompensatorischen Vorkommnisse im Zentralnervensystem ausdehnen.
Bezüglich der Kompensation eines minderwertigen Organes durch ein zweites Organ kann ich mich kurz fassen. Wir sind gewohnt, dabei an Herzhypertrophien zu denken, mittelst welcher ein funktioneller Ausfall der Nieren oder der Lungen ausgeglichen wird. An dem Faktum ist nicht zu zweifeln. Ich werde nur wie oben hinzufügen müssen, daß manches dafür spricht, in solchen Fällen auch das Herz als minderwertiges Organ aufzufassen. Nebenbei möchte ich bemerken, daß diese Gruppe offenbar eine viel größere Aufmerksamkeit verdient, als ihr gegenwärtig zukommt. Unzweifelhaft ist das häufige kompensatorische Eintreten des Gehirnes bei mangelhaften Funktionen der Organe. Aber auch die Drüsen mit Ausführungsgängen und die mit innerer Sekretion dürften häufig zur Kompensation herangezogen werden. Die gesamten Krankheitserscheinungen werden oft durch die Erkrankung des kompensierenden Organes beherrscht. Die Ergebnisse der pathologischen Anatomie decken nicht immer die vorgefundenen Krankheitserscheinungen, da sie Veränderungen nachweisen, während die Klinik oft den Ausdruck von Relationen zu beurteilen hat. Manche „Fehldiagnosen“, manche Erfolglosigkeiten der Therapie wurzeln in diesen nicht völlig geklärten Beziehungen. Sicherlich kann auch eine vereinzelte Minderwertigkeit, zum Beispiel der Niere, in Erscheinung treten und ihre Symptomatologie schaffen auf Grund einer mechanischen oder sonstigen Korrelation der Organe. Vor allem ist dabei an konsekutive Erkrankungen des Herzens, der Haut, des Auges und des Verdauungstraktes zu denken, für deren Zusammenhang mit Nierenaffektionen die Pathologie genügende Belege bietet. Andrerseits aber muß hervorgehoben werden, daß manche dieser konsekutiven Erkrankungen Kompensationserscheinungen auf minderwertigem Boden oder „Reaktionserkrankungen“ in anderen minderwertigen Organen sind, wie der Fall L. Z. im Anhang beweist. Aus dem ganzen Ensemble der Minderwertigkeit drängt sich der Gedanke auf, daß normale Organe weniger durch Hypertrophie und mehr durch Hyperfunktion kompensieren. Je minderwertiger dagegen ein Organ gestaltet ist, je weniger seine funktionelle Ausbildung gelungen ist, um so eher wird es auf Reize allerlei Art mit Wachstumsüberschuß reagieren.
Von der Tatsache des Wachstumsüberschusses minderwertiger Organe bis zur Annahme der Entstehung der Neoplasmen in solchen ist nur ein Schritt. Dieser erscheint uns gerechtfertigt, wenn wir das familiäre Auftreten, die anamnestischen Details, ihr Auftreten an oder neben primär minderwertigen Organen gehörig ins Auge fassen. Ob für einzelne der Neubildungen Parasiten in Betracht kommen, muß ich dahingestellt sein lassen, halte aber ihre Rolle nicht für ausschlaggebend. Besonders die anamnestischen Daten sprechen für die Annahme, daß Neoplasmen nur in minderwertigen Organen entstehen. Ich konnte mich in meinen Fällen stets überzeugen, auch die Literatur bietet genug Belege, daß der Entwicklung des Karzinoms durch eine Reihe von Jahren funktionelle Störungen oder anderweitige Erkrankungen des Organes vorangehen, nicht selten solche neurotischer Natur. Die Auffassung eines ursächlichen Zusammenhanges von Lupus, chronischen Katarrhen, Entzündungen, Hämorrhagien oder Mikroorganismen mit der Entstehung eines Karzinoms läßt regelmäßig das kausale Moment unerwiesen. Nach unserer Auffassung charakterisieren sich alle diese vermeintlich „ätiologischen“ Affektionen in gleicher Weise wie das Neoplasma als Äußerungen der Minderwertigkeit des erkrankten Organes. Dasselbe gilt auch für die Entstehung von Neoplasmen aus Nävis, von denen der Naevus pigmentosus in einer unheimlichen Weise oft minderwertige und erkrankte Organe verrät. Ich habe wenigstens an meinem Krankenmaterial auf ihn achten gelernt und ihn nicht selten bei Lungentuberkulose, Nierenaffektionen und Appendizitis in der Gegend des erkrankten Organes gefunden. Da die embryonale Herkunft des Naevus pigmentosus und sein familiäres Auftreten sichergestellt sind, ferner die Tatsachen, die zur Karzinomtheorie Cohnheims von den versprengten embryonalen Keimen führten, unerschüttert scheinen, ergibt sich auch aus diesem Gesichtspunkt eine Bestätigung meiner Annahme. Nur daß an Stelle der versprengten embryonalen Keime, die bis heute nicht nachzuweisen waren, der fötale Charakter des minderwertigen Organes im ganzen oder in einem seiner Teile tritt.
Es geht aber keineswegs an, den Beweis der Minderwertigkeit eines Organes ausschließlich an seine Erkrankung zu knüpfen. Nur der Laie wird sich gegen die Annahme wehren, daß ein langes Leben mit einer langen Krankheit sehr wohl verträglich sei. Auch ein minderwertiges Organ muß durchaus nicht zu frühem Tode führen. Wohl ist aber durch die Konkurrenz von fötalem Bildungsmangel, Reizzustand und Materialreserve unter gleichbleibenden äußeren Bedingungen der Ausgang determiniert. Man wird Veränderungen atrophischer Natur finden, ihnen gegenüber solche hypertrophischen Charakters, verminderte, vermehrte Leistung, die verschiedensten Anomalien der äußeren und inneren Sekretion, Mangel und Überschuß. Versuchen wir außerdem noch, die äußeren Bedingungen, die Anforderungen gegenüber von Anstrengungen, Infektionen, Domestikation (Hansemann) und Milieu ins Kalkül zu ziehen, so fallen in unsere Betrachtung auch noch die neuerdings zur Geltung gelangten Überbürdungs- und Aufbrauchskrankheiten (Edinger), die lokalisierten Infektionserkrankungen, Neoplasmen, Appendizitis, Ulcus rotundum, Prostatahypertrophie etc., Neurosen, Nervenerkrankungen peripherer und zentraler Natur, Rassen- und familiäre Erkrankungen, Tabes und Paralyse.
Die Summe des zu bearbeitenden Materiales ist demnach überwältigend. Im Einzelfalle hat man aber der ordnenden Gesichtspunkte genug, um einen Überblick zu gewinnen und das minderwertige Organ herauszufinden. Von überragender Bedeutung unter allen Umständen ist und bleibt die Feststellung der Erkrankungslokalisation. Damit erscheint auch der Rahmen der gegenwärtigen klinischen Medizin festgehalten. Es leuchtet aber sofort ein, daß unser Standpunkt weiter blicken läßt und in die Lage versetzt, ein weiteres Verständnis für den vorliegenden Prozeß zu ermöglichen, da sich zu der Krankheitseinsicht für viele Fälle noch die Feststellung einer Organminderwertigkeit gesellt, aus deren Art und Intensität sich Schlüsse ergeben, die dem Bereiche der Ätiologie, Symptomatologie und Therapie zugute kommen. Es ist weiterhin klar, daß der heute arg gefährdeten individualisierenden Betrachtung am Krankenbett, dies gilt insbesondere für die Infektionskrankheiten, neue Hilfsquellen erschlossen werden. Die endemische und epidemische Ausbreitung von Infektionen kann ich nicht als ernstliches Argument gegen die Organ-Minderwertigkeitslehre gelten lassen. Sie beweist vielmehr nur die relative Minderwertigkeit unserer gegenwärtigen Organzellen im Kampfe gegen die Mikroorganismen. Dagegen fügt sich die Prognose, Therapie und vor allem die Lehre von den Krankheitskomplikationen, Sekundärerkrankungen und Nachkrankheiten auch in diesen Fällen den Normen der Minderwertigkeitslehre. Die Berücksichtigung der Organminderwertigkeit wird in allen diesen Fragen eine größere Sicherheit geben, je besser wir in der Lage sein werden, die Relationen der Minderwertigkeit zu begreifen. Der Verlauf einer Diphtherie hängt sicherlich in erster Linie ab von der antitoxischen Wehrfähigkeit des Organismus, von der aktiven oder passiven Immunisierung. Aber die Wertigkeit von Herz, Niere und Atmungsapparat kommen für die Entscheidung gleichfalls in Betracht.
Die Minderwertigkeit eines Organes braucht sich übrigens das ganze Leben hindurch nicht zu äußern. Oder die Äußerung bleibt so geringfügig, daß man kaum daran denkt, ein minderwertiges Organ vor sich zu haben. Oder sie drückt sich in morphologischer Anomalie und zuweilen auch da nur so dürftig aus, daß der Bestand des Individuums nicht in Frage gestellt wird. Auch geringe Abweichungen, zuweilen in den primitivsten Funktionen, können das Ganze der Minderwertigkeit vorstellen, die ein andermal wieder zu Erkrankung und Tod des Trägers führen kann. Ein bedeutsames Licht werfen auf das Wesen der Organminderwertigkeit die häufige Erscheinung der mehrfachen Minderwertigkeiten an den Organen einer Person und die damit zusammenhängende Rolle des Gehirnes und Rückenmarkes, welche nicht selten kompensatorisch eintreten und den vorhandenen Defekt decken oder zu einem besonderen Nutzeffekt gestalten. Wir werden im folgenden also einer Besprechung zu unterziehen haben:
I. Heredität
II
Anamnestische Hinweise
III
Morphologische Kennzeichen
IV
Reflexanomalien als Minderwertigkeitszeichen
V
Mehrfache Organminderwertigkeiten
VI
Die Rolle des Zentralnervensystems in der Minderwertigkeitslehre.
Psychogenese und Grundlagen der Neurosen und Neuropsychosen.
(Alfred Adler, 1870-1937, österreichischer Arzt, Psychotherapeut, Begründer der Individualpsychologie)
Menschsein heißt, ein Minderwertigkeitsgefühl zu besitzen, das ständig nach seiner Überwindung drängt.
(Alfred Adler)
"Überkompensation" des "Minderwertigkeitsgefühls" führt zu Ehrgeiz, Herrschsucht, Machtstreben. Oberstes Ziel ist das "Gemeinschaftsgefühl". Scheitert die "Kompensation", folgt Absinken in die Geisteskrankheit.
(Alfred Adler)
Überempfindlichkeit ist Ausdruck eines Minderwertigkeitsgefühls.
(Alfred Adler)
Das "Minderwertigkeitsgefühl" bedarf der "Kompensation" durch Hinwendung zur Gemeinschaft.
(Alfred Adler)
Je größer das erlebte Gefühl der Unterlegenheit eines Menschen ist, desto größer ist die Heftigkeit, zu erobern, und desto gewaltsamer ist die emotionale Unruhe..
(Alfred Adler)
Mensch Anfangen Beginnen Depressionen Philosophen-Philosophinnen Leben Neurodermitis Abnehmen Neujahr Sprüche Zitate Vorsätze Neuanfang Interview mit Psychotherapeut Mensch gegen Natur Der Mensch Tucholsky Natur Vorsokratiker-Die Frage nach dem Grund
Leben, Werke, Informatives und Wissenswertes über den österreichischen Arzt und Psychoanalytiker.
Verwendung des Begriffs, Geschichte, körperlich-seelische Voraussetzungen, Ursachen und Auswirkungen, psychoanalytische Betrachtungsweise.
Konzept, Begriff, Adler und Freud, Theoretische Grundlagen, Erforschung der Persönlichkeit, Erziehungslehre, Charakterkunde, Psychopathologie, Psychotherapie, Verbreitung Individualpsychologie, Vertreter, Institutionen.