Das Leben bildet eine Oberfläche, die so tut, als ob sie so sein müsste, wie sie ist, aber unter ihrer Haut treiben und drängen die Dinge.
(Robert Musil, 1880-1942)
... in des Löwen Haut stecken kannst, so kleide dich mit jener des Fuchses.
(Sprichwort aus Portugal)
in der Nacht war es am schlimmsten. Hanna konnte kaum eine
Stunde schlafen, schon begann es wieder zu jucken. Am Hals, im
Gesicht, auf der Kopfhaut, an den Armen, unter den Armen und
vor allem in den Ellenbeugen und sogar in den Kniekehlen und
Innenseiten der Oberschenkel.
Hanna kratzte und kratzte und kratzte. Bis aufs Blut. Ihre Haut zeigte rote juckende Stellen, Ekzeme, die
vom Kratzen bereits überall offen waren, so dass das Blut über die Arme lief, über das Gesicht.
Erst in den Morgenstunden gab die Haut für eine Weile etwas Ruhe
und Hanna konnte ein wenig schlafen.
Hanna war etwas über dreissig als sie an einer schweren Neurodermitis
erkrankte. Ihre Haut reagierte auf alle möglichen Sachen allergisch. Das heisst, die Haut wurde rot und juckte heftig. Manchmal
entstanden sogar grosse Blasen, vor allem am Gesicht und im
Halsbereich.
Hanna reagierte vor allem auf Nahrungsmittel allergisch, nicht jedoch auf Milch und Weizen, wie das bei vielen Allergikern der
Fall sei, sagten Ärzte ihr. Auch auf Blütenpollen, Farbdämpfe, Medikamente reagierte Hanna allergisch. Teils ebenfalls mit Juckreiz und Ekzemen, teils mit Atemnot.
In den schlimmsten Phasen gabe es auf Hannas Körper kaum noch Körperbereiche,
die nicht betroffen waren. Sie war Tag und Nacht nur noch am
Kratzen, Blut abwischen, sich waschen, einsalben, verbinden.
Eine mühselige und kräfteaufreibende Angelegenheit, die sie teils
völlig absorbierte und die sie immer wieder erschöpfte bis zum
Zusammenbruch. Und es gab nichts, das Linderung versprach,
ausser Kratzen.
Die unzähligen Arztbesuche und Untersuchungen konnten ihr
nicht helfen. Sie machten nur erschöpfter und verzweifelter.
AUF ALLES ALLERGISCH
Hanna reagierte auf alle Salben, Cremes und Medikamente, die ihr der Hautarzt verschrieb,
allergisch. Auch auf Krotison. Davon bekam sie Atemnot. Sie probierte es mit Homöopathie, mit Akkupunktur, mit
chinesischer Medizin, aber sogar darauf hatte sie starke allergische
Reaktionen. Auch Diäten und Ernährungsumstellungen brachten keinerlei Besserung.
Meistens blieb Hanna zu Hause, ging über längere Zeiten gar nicht mehr
aus dem Haus. Ihr Gesicht war völlig entstellt durch die Hautkrankheit
und durch die Kratzerei. Sie fand sich hässlich und unansehnlich.
Freunde waren erschrocken als sie sich wieder einmal gezeigt hatte.
Man mochte sie nicht mehr ansehen. Wollte früher noch jeder mit
ihr gut Freund sein, weil sie gut aussah, gingen ihr heute viele aus
dem Weg.
Hanna verstand ihre Krankheit damals noch nicht. Sie musste einfach
kratzen, wenn es juckte. Auch wenn andere immer sagten: nicht kratzen,
nicht kratzen, hör auf! Sie musste kratzen. Ihr Ritual mit kratzen, waschen, eincremen und verbinden war das Einzige, das kurze Zeit Linderung brachte.
Irgendwann nahm sie sich bewusst Zeit für dieses Ritual. Man könnte
auch sagen, zu einer ganz eigenen Form der Zuwendung und Zeit, die
sie sich selbst schenkte. Denn es schien, als wollte einfach etwas aus der Haut fahren, sich veräussern, das noch keinen anderen Ausdruck gefunden hatte.
HILFE KAM AUS EINEM BUCH
Einmal, es war an einem Freitagabend, Hanna sass auf dem Sofa im
Wohnzimmer und kratzte an ihren Armen, weil es wieder so unheimlich
juckte. Eine Diskussion lief im Fernseher, die sie halbherzig verfolgte.
Erst als eine Frau von ihrer Krankheit erzählte und von dem Weg, den
sie ohne Medikamente gegangen war, wurde sie hellwach.
Das Buch von Rüdiger Dahlke, das in der Sendung erwähnt wurden,
bestellte sich Hanna gleich am nächsten Tag. Krankheit als Symbol,
Handbuch der Psychosomatik. Symptome, Be-Deutung, Bearbeitung,
Einlösung.
Hanna wusste sofort, das war ihr Weg. Sie wollte nicht länger in Kliniken
Versuchskaninchen sein, sondern ihre Krankheit verstehen und etwas
daraus lernen.
Nebst den Büchern sprach Hanna immer wieder mit Psychologen,
stellte Fragen und suchte nach Antworten.
DER PAKT MIT DER HAUT
Mittlerweile hatte Hanna mit ihrer Haut einen freundschaftlichen Packt geschlossen.
Sie wurde ihr eine Vertraute, die ihr die Richtung zeigte, die sie verpasst hatte.
Heute sagt ihr jeder Juckreiz, dass etwas mit der Abgrenzung nicht stimmt. Dass Kränkungen keinen Ausdruck fanden, dass sie mit ihrem Innern nicht im Einklang ist, sie unbewusst Wut und Aggression gegen sich selbst richtet.
Zu wenig Nein gesagt, zu wenig auf ihr Inneres gehört, zu wenig oder
zu sehr die Bremse angezogen, zu wenig oder zu viel Kontakt und
Austausch zugelassen, zu lieb gewesen und es allen recht gemacht,
zu wenig auf die Seele gehört, zu wenig auf die Widerstände und
Bedürfnisse geachtet und sich wieder nicht getraut, sich seiner Haut zu wehren, wenn es ungerecht gegen sie kam.
NEIGUNGEN ERNST NEHMEN
Hanna lernte ihre Neigungen und ihre Sensibilität ernst nehmen, statt sie als etwas Schlechtes zu verurteilen und weghaben zu wollen.
Sie lernte zu ihrem eigenen ganz persönlichen Rhythmus zu stehen, ihn ernst zu nehmen und zu leben. Auch wenn sie damit gegen Normen oder Traditionen aneckte.
Sie lernte ihre Sensibilität bewusst einzusetzen:
Fühlen, spüren, wahrnehmen, was nicht gut tut und entsprechend reagieren. Sich nicht jeden Schuh anziehen, sich nicht alles gefallen lassen.
Sie lernte Gefühle und Emotionen wahrnehmen und ausdrücken. Sich abgrenzen - ihre Grenzen bewusst und sensibel zu öffnen und zu schliessen.
Sie hat Ventile gefunden für ihre Gefühle und Emotionen. Verbal, kreativ, sportiv. Und sie getraute sich immer wie mehr, Ihrer Persönlichkeit Ausdruck zu verleihen, zu dem zu stehen, was sie spürte und wahrnahm.
Es war ein langer und mühsamer Prozess, aber sie konnte ihre Haut immer wie mehr entlasten, so dass sie nach einigen Jahren fast völlig geheilt war.
(© Beat Jan, Mai 2013)
Das Böse, nicht die Fehler, dauern, das Verzeihliche ist längst verziehen, die Messerschnitte sind auch so verheilt, nur der Schnitt, den das Böse tut, er heilt nicht, bricht aus in der Nacht, jeder Nacht.
(Ingeborg Bachmann, Gloriastrasse, 2. Vers)
SYMPTOMEBENE
Von allergischen Hautreaktionen herausgefordert werden ("es juckt und kratzt mich");
Aggressive Form der Zuwendung, die schon von betroffenen Kindern schreiend eingefordert wird;
Reaktion auf Allergen (oft Milch, was auf einen Mutterkonflikt schliessen lässt), das stimuliert und erregt und reizvoll oder reizend erlebt wird;
Nach aussen drängende Leidenschaft, inneres Feuer/Zorn: "sich aufgekratzt fühlen";
Bis aufs Blut gehender Kampf gegen symbolische Feindbilder, dargestellt von den Allergenen;
Überreaktion, überzogenes Feindbild, starke unbewusste Aggressivität;
Die flammende Aggression steht einem ins Gesicht geschrieben;
Es verreisst die Fassade;
Über die Vermeidung von Allergenen die Umwelt tyrannisieren und damit Aggressionen ausleben: unbewusste Machtspiele;
Aggressionsstau, unterdrückte Vitalität;
unstillbares Bedürfnis, sich blutig zu kratzen, die eigenen Grenzen einzureissen;
(Auf der falschen Ebene) aufgekratzt sein, aus der Haut fahren wollen;
Sich aussätzig fühlen (sich aus der Gemeinschaft ausschliessen), sich absondern.
BEARBEITUNG
Sich die eigenen unter die Haut gehenden Bedürfnisse bewusstmachen;
Sich freiwillig herausfordern lassen: das Leben mit seinen Reizen darf
einen jucken;
Die vielen Reize bewusst zu sich hereinlassen und sich herauslocken
lassen;
Die Grenzen mutig öffnen;
Die als feindlich eingestuften Symbole bewusst hereinlassen und in
ihrer ganzen Bedeutung erkennen und annehmen;
Reaktionsfreudiger werden;
sich mehr erlauben, aufgekratzt zu sein;
Die Grenzen (Haut) durchlässiger werden lassen, um mehr Kontakt
und Austausch pflegen zu können;
Dem Körper die Aggressionsübung wieder abnehmen und selbst
aggressiver und offensiver werden: zu leben wagen, schlag-fertiger
werden;
Lernen, sich seiner Haut zu wehren und ihre Schleusen nach
Belieben zu öffnen;
Herausforderungen bewusst annehmen und sich von ihnen
fordern und fördern lassen;
Offensiv agieren;
Erotik geniessen (lernen);
Bewusste Auseinandersetzungen mit den gemiedenen und
abgewehrten Bereichen suchen.
EINLÖSUNG
Im Bewusstsein so lange kratzen, bis man weiss, was einen
juckt und reizt, einem unter die Haut geht und auf der Seele
brennt;
Die heissen Eisen des eigenen Lebens in Angriff nehmen;
Dem Leben die Stirn bieten.
(Rüdiger Dahlke; Aus dem Buch "Krankheit als Symbol", Handbuch der Psychosomatik)
Hier veröffentlicht mit freundlicher Genehmigung von Rüdiger Dahlke.
(© Monika Minder)
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Jeder steckt in seinem Bewusstsein wie in seiner Haut und lebt unmittelbar nur in demselben.
(Arthur Schopenhauer, 1788-1860, deutscher Philosoph)
Grenzen meines Körpers sind Grenzen meines Ichs. Die Hautoberfläche schliesst mich ab gegen die fremde Welt: auf ihr darf ich, wenn ich Vertrauen haben soll, nur zu spüren bekommen, was ich spüren will.
(Jean Améry, 1912-1978, österreichischer Schriftsteller)
Der Traum ist der beste Beweis dafür, dass wir nicht so fest in unsere Haut eingeschlossen sind, wie es scheint.
(Friedrich Hebbel, 1813-1863, deutscher Dichter und Dramatiker)
Es hat noch niemand in meiner Haut gesteckt.
(Fanny zu Reventlow, 1871-1918, deutsche Schriftstellerin und Malerin)
Ihr Philosophen habt es gut. Ihr schreibt auf Papier und Papier ist geduldig. Ich unglückliche Kaiserin schreibe auf der empfindlichen Haut von Menschen.
(Katharina II., die Große, 1729-1796, russische Zarin)
Ich fühle mich zerschlagen und möchte nur noch schlafen, doch ich kann nicht schlafen, weil ich auf der Haut ein entsetzliches Jucken habe (ohne dass man Flecken und Rötungen sieht). Fortin behauptet, dass es eine nervöse Reizung der Hautwärzchen sei. Ausserdem habe ich Schmerzen in dem einzigen oberen Zahn, der mir noch verblieben ist. Komisch! Komisch! aber es ist eine Komik, über die ich nicht lachen kann!
(Gustave Flaubert, 1821-1880, französischer Erzähler und Novellist)
Aber diese grosse Menschen haben mich gelehrt, dass die menschliche Seele unsterblich sei, und unüberwindlich wenn sie es sein will und nur den Mut hat sich ihrer edlen Haut zu wehren.
(Matthias Claudius, 1740-1815), deutscher Dichter, Journalist)
Möge meine Haut schrumpfen, möge meine Hand verdorren und mögen meine Gebeine sich auflösen, solange ich nicht auch die letzte Erkenntnis gefunden habe, werde ich mich nicht von hier wegrühren.
(Buddha, 563-483 v. Chr., Siddhartha Gautama, Begründer des Buddhismus)
Abgrenzung und Ausdruck geben deinen von Wunden zur Schau getragenen Kränkungen eine neue Haut.
(© Monika Minder)
Was ist's eigentlich, was dir der Nebenmensch entgelten soll? Daß er nicht aus seiner Haut heraus kann. Steige erst mal aus deiner!
(Wilhelm Raabe, 1831-1910, deutscher Schriftsteller, Erzähler)
Wer die Grenzen des Lebens begriffen hat, weiss, dass jenes leicht zu beschaffen ist, was das Schmerzende des Mangels beseitigt und das gesamte Leben zu einem vollkommenen macht. Darum bedarf er keiner Veranstaltungen, die Kämpfe mit sich bringen.
(Epikur von Samos, 341-271 v. Chr., griechischer Philosoph)
Ihr kommt das Haus mir umzukehren,
Und steckt mir's über'm Kopf in Brand,
Und will ich meiner Haut mich wehren,
So schimpft ihr mich intolerant.
(Emanuel Geibel, 1815-1884, deutscher Lyriker und Dramatike)
Wo die Natur aus ihren Grenzen wanket, Da irret alle Wissenschaft.
(Friedrich von Schiller, 1759-1805, deutscher Schriftsteller, Arzt, Dichter, Philosoph und Historiker)
Ohne Egoismus wäre eigentlich gar nicht zu leben. Jeder wehrt sich seiner Haut, und man müsste zu Grunde gehen, wenn man nur an andere, nicht an sich dächte.
(Joseph Stanislaus Zauper, 1784-1850, Schriftsteller und Lehrer)
„Erkenne dich selbst“ ist die ganze Wissenschaft. — Erst am Ende der Erkenntnis aller Dinge wird der Mensch sich selber erkannt haben. Denn die Dinge sind nur die Grenzen des Menschen.
(Friedrich Nietzsche, 1844-1900, deutscher Philosoph, Essayist, Lyriker und Schriftsteller)
Einsamkeit ist ein köstlicher Balsam auf die wunde Haut der Seele; aber im Übermaß aufgetragen reizt er vielleicht mehr als er lindert.
(Emil Gött, 1864-1908, deutscher Dramatiker)
Jeder steckt in seinem Bewusstsein, wie in seiner Haut, und lebt unmittelbar nur in demselben: daher ist ihm von aussen nicht sehr zu helfen.
(Arthur Schopenhauer, 1788-1860, deutscher Philosoph)
Wenn Lärm die Haut deiner Seele entstellt leg dir den Mond aufs Gesicht und beschweige die Welt.
(Rabbi Nachman von Bratzlaw, 1772-1810, Rabbiner und Erzähler)
Mensch Anfangen Beginnen Depressionen Vorsätze Leben Abnehmen Neujahr Sprüche Zitate Neuanfang Interview
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Wissenswertes und psychosomatische Aspekte.